Working-Class-Literaturfestival des Fabrikkollektivs ex-GKN
4. bis 6. April 2025 in der Nähe von Florenz

Zur Entstehung des Literaturfestivals
Wer nach Arbeiterklassenliteratur sucht, muss häufig in die Vergangenheit oder andere Länder reisen. Die gleiche Erfahrung machte Alberto Prunetti, italienischer „working class“-Schriftsteller und Festivalleiter, der begann, sich durch den frühzeitigen Tod seines Vaters an arbeitsbedingter Asbest-Belastung mit dieser Literaturform auseinanderzusetzen. Er stieß auf ein working class-Literaturfestival in England, das ihn begeisterte, aber hauptsächlich ein kultur-affines Publikum und akademische Teilnehmer*innen erreichte. Ihm fehlte die Lebendigkeit und die Verbindung zu der elektrisierenden Energie konkreter Kämpfe, die er kurze Zeit später in Italien beim Fabrikkollektiv ex-GKN bei Campi Bisenzio (Florenz) fand.
Von der Fabrik der Träume
Der Kampf des Fabrikkollektivs ex-GKN gegen den Investmentfonds Melrose ist bereits heute als längste Fabrikbesetzung in die Geschichte der italienischen Arbeiter*innenbewegung eingegangen. Seit dem ersten Kündigungsversuch am 09. Juli 2021 leisten die Arbeiter*innen mit breiter Unterstützung aus der Zivilgesellschaft Widerstand, denn sie kämpfen nicht nur um ihre Arbeitsplätze, sondern für eine ökosoziale, demokratische Re-Industrialisierung einer ganzen Region. Dieser selbstbewusste Protest des Fabrikkollektivs ex-GKN entfesselt eine Kraft, die seit den 1980er Jahren in Italien nicht mehr spürbar war und auch international begeistert, weswegen sich in verschiedenen Ländern Unterstützungsgruppen gründeten. Eine der zahlreichen kulturellen Blüten – neben Theaterstücken, Filmen und Büchern –, die dieser Arbeitskampf hervorbrachte, ist das dritte Working Class Literaturfestival, das im April 2025 unter dem Motto „Wir werden alles sein“ 7000 Teilnehmer*innen anzog. Der Gegenwart mit Krieg, Umweltzerstörung und Ausbeutung will das Festival eine solidarische und demokratische Zukunft entgegensetzen.
Diese Zukunft scheint auf dem Gelände des kostenfreien, durch Crowdfunding und mit Hilfe hunderter Ehrenamtlicher organisierten Festivals immer wieder auf. Die gesamte Reihe von Zeltständen mit Büchern, T-Shirts und Essen werden von besetzten Bauernhöfen, linken Verlagen und sogar einem organisierten Stadtviertel Roms betrieben. Es geht den Festival-Organisator*innen, darunter auch CHANGE e.V. aus Bamberg, darum, Kämpfe zu verbinden und zu gewinnen. Und dafür kann die Erzählung und das Erkennen der geteilten Klassenlage Kraft geben. Die Podien beweisen, dass die Arbeiterklasse auch heute noch viel zu erzählen hat.
Literatur als Kampf um poetische Gerechtigkeit
Die zahlreichen Geschichten über italienische Kellner in Wien, ostasiatische Wanderarbeiter*innen in China oder Arbeiterklassen-Familien in Frankreich machen Unsichtbares sichtbar und Ausbeutungsverhältnisse spürbar. Sie zeigen die entmenschlichende Qualität entfremdeter, prekärer Arbeit. Schreiben wird zum Akt des Widerstands, dem man sich anschließen kann. Alberto Prunetti bezeichnet dieses Schreiben als einen Kampf für „poetische Gerechtigkeit“ für diejenigen, denen – wie seinem Vater – aufgrund bestehender Machtverhältnisse weder politisch noch juristisch Gerechtigkeit widerfährt. Der tosende Beifall des Publikums bestätigt, dass die Autor*innen mit ihrem Ruf nach Gerechtigkeit nicht alleine sind.
Die Elefanten im Raum
Deutlich wird hier die enge Verbindung zwischen Literatur und sozialen Kämpfen. Fast 5000 Teilnehmer*innen schlossen sich am Samstagabend der Demonstration „Wir sind gemeinnützig“ an, um den produktiven Wert der „öffentlichen und sozial-integrierten Fabrik“ auszurufen, in der die Arbeiter*innen demokratisch und im Austausch mit der Bevölkerung über die Produktion bestimmen wollen. Und nicht nur das: Nach jedem Literatur-Panel traten die „Elefanten im Raum“ auf die Bühne – Initiativen aus ganz Italien, unter anderem Basisgewerkschaften, feministische Gruppen, Klima-Aktivist*innen, Stadtteilorganisationen und Palästina-solidarische Gruppen stellten ihre konkreten Kämpfe vor. Sie forderten die Zuhörenden auf, die Passivität zu überwinden und mutig für eine Alternative einzustehen.
Zum Traum von einer Fabrik
Dario Salvetti – Sprecher des Fabrikkollektivs ex-GKN –, dem wie seinen Kolleg*innen zum 01. April 2025 gekündigt wurde, rief bei der Demonstration dazu auf, nicht das Träumen aufzugeben – denn „wir können nur das gewinnen, was wir uns erträumen und wofür wir kämpfen!“. Trotz Kündigung, 15 Monaten ohne Lohn und Ungewissheit über den Standort halten die Arbeiter*innen am Traum von der „öffentlichen, sozial-integrierten Fabrik“ fest. Zum Träumen ermutigt nicht zuletzt das Arbeiterklassen-Literaturfestival, das im nächsten Jahr unter dem Motto des „Gewinnens“ stehen soll.
Internationale Beteiligung braucht Übersetzung – Danke an Care for Future
Spread the word – dafür braucht es Verständnis und Kommunikation. Dank der finanziellen Unterstützung der Stiftung Care for Future konnten wir das gesamte Panel für die ca. 100 internationalen Gäste ins Deutsche und Englische übersetzen lassen. Die dadurch entstandenen Ideen und Vernetzungen der aus Deutschland angereisten Gruppe (ca. 40 Menschen) mit den Gästen aus China, England, Frankreich und Italien werden sicher ihren Weg in politische und kulturelle Projekte finden. Die Bedeutung einer mutigen und ermutigenden Kultur im (vor)politischen Raum ebenso wie die Notwendigkeit, Kämpfe zu verbinden, waren auf dem Festival mit vielen Sinnen wahrnehmbar und motivierten die Teilnehmer*innen, die Fabrikarbeiter*innen des Fabrikkollektivs im Mai nach Deutschland einzuladen. In Absprache mit der Festivalleitung sollen im nächsten Jahr auch deutsche Autor*innen an den Podien teilnehmen.
